2012-06-28

Das «europäische Orchester» wieder zum Klingen bringen

Europäische Integration (Teil 5)

Politische Union oder Rückbau von offensichtlichen Fehlentwicklungen?

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich 
 
Am 28. und 29. Juni findet in Brüssel der EU-Krisen-Gipfel statt. Bundeskanzlerin Merkel kündigt einen Arbeitsplan für eine politische Union an. Es werde um «mehr Europa» gehen. «Wir brauchen nicht nur eine Währungsunion, sondern wir brauchen eine sogenannte Fiskal­union, also mehr gemeinsame Haushalts­politik», sagte sie in der ARD. Vor allem sei aber eine politische Union nötig. Das bedeute, Kompetenzen an Brüssel abzugeben.
Neu ist das nicht. Kreise, die die europäischen Nationalstaaten mehr und mehr in einer politischen Union aufgehen lassen wollen, nutzen die Euro-Krise seit längerem für ihre Zwecke. Die Krise dränge die Mitgliedsländer zu einer politischen Union, sagen sie. Weitere Kompetenzen im Fiskal- und Finanzbereich müssten zwingend an Brüssel abgegeben werden. Euro-Bonds, für die alle gemeinsam haften, gehörten dazu. Jean Monnet hatte vor fünfzig Jahren Ähnliches gesagt: «Der Mensch akzeptiert Veränderungen nur unter dem Druck der Notwendigkeit.» Ökonomische Krisen würden als Hebel dienen, um weitere Integrationsschritte zu erzwingen (vgl. Zeit-Fragen 12.12.2011). Diese Kreise sind nun im Vormarsch. Nur – ist eine Krise wirklich eine tragfähige Basis für die Gründung einer politischen Union?
Nüchterne Betrachter und Politiker dagegen besinnen sich darauf, was in Europa funktioniert und was nicht – und machen sich mutig daran, offensichtliche Fehlentwicklungen zurückzubauen. – Quo vadis, Europa?
In der Artikelfolge «Das europäische Orchester wieder zum Klingen bringen» (vom 12.12.2011, vom 3., 17. und 30.1.2012) hat Zeit-Fragen grundsätzliche Fragen des Zusammenlebens in Europa in ihrer geschichtlichen Entwicklung beleuchtet. In den folgenden Zeilen sollen die wichtigsten Gedanken daraus zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden. Es ist sinnvoll, die Vorgeschichte zu kennen, bevor wegweisende Entscheidungen getroffen werden.

Jean Monnet

Zentral für die aktuelle Entwicklung ist die Person von Jean Monnet, dessen Wirken heute als Schlüssel für das Verständnis der Euro-Krise betrachtet werden kann. Nach seinen Vorstellungen sollten die Nationen Europas – Schritt für Schritt – zu einer immer «engeren Union», das heisst zu einer Art Bundesstaat, zusammengefügt werden. Dieses Konzept folgte – wie heute in der Schweiz zugängliche Dokumente zeigen – der strategischen Planung der USA nach dem Zweiten Weltkrieg.
Jean Monnet lebte mehr als zwanzig Jahre in den USA und pflegte hier enge Kontakte zur wirtschaftlichen und politischen Führungselite. Er übte in der Finanzbranche wichtige Funktionen aus. Er war Vizepräsident einer Grossbank und gründete selbst eine eigene Bank. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er in hoher Position in der amerikanischen Kriegswirtschaft. Er war eng befreundet mit dem späteren amerikanischen Aussenminister John Foster Dulles.
Politiker in der Schweiz um Bundesrat Schaffner (und mit ihnen eine Vielzahl von Politikern in andern Ländern Europas) strebten dagegen eine freiheitliche Kooperation an, um das «europäische Orchester» nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges wieder zum Klingen zu bringen. Sie sahen die europäische Integration eher in einem gleichberechtigten, freundschaftlichen Zusammenwirken von souveränen Nationen. Dieses ­politische Denken prägte die OEEC und führte 1960 zur Gründung der EFTA.
Die USA als führende Weltmacht steuerten im Hintergrund das Geschehen. Sie favorisierten die Idee der EWG und bekämpften die Idee einer Freihandelszone, in der die europäischen Nationen als souveräne Staaten zusammenarbeiteten. Sie versuchten aktiv, die EFTA zu verhindern, weil sie nicht in ihr weltpolitisches Konzept passte, und arbeiteten nach ihrer Gründung im Jahr 1960 auf deren Wiederauflösung hin. Nach den Vorstellungen der USA sollte Europa die «Kleinstaaterei» überwinden und im weltpolitischen Kräftespiel einen einheitlichen politischen Block bilden. Jean Monnet verkündete diese Botschaft unermüdlich bis zu seinem Tod im Jahr 1978 – vor allem über seine länderübergreifenden Netzwerke, die er unermüdlich aufgebaut hatte. Auch die Schweiz war von Anfang an dabei. Jean Monnet errichtete 1957 in Lausanne das Büro für sein «Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa». Wenig später kam ein Dokumentationszentrum dazu, wo heute die Gründungsdokumente der Montanunion und der EWG aufbewahrt werden. Die Ford-Stiftung aus den USA finanzierte das Zentrum für Europäische Studien. 1978 gründete Monnet hier die «Fondation Jean ­Monnet pour l’Europe». Die Ferme de Dorigny ist heute ein Treffpunkt zur Pflege des Gedankenguts von Jean Monnet.

Charles de Gaulle

Eine weitere Persönlichkeit spielte in diesem Ringen um die Zukunft Europas eine wegweisende Rolle – der französische Staatspräsident Charles de Gaulle. Er verfolgte in der Frage der europäischen Integration die Vision eines «Europas der Vaterländer» und vertrat damit eine ähnliche Linie wie die EFTA.
Mit Jean Monnet und Charles de Gaulle wirkten in Paris zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten mit gegensätzlichen Vorstellungen, wie das Zusammenleben der europäischen Völker zu organisieren sei: Das «Europa der Vaterländer» oder die «Vereinigten Staaten von Europa». Diese beiden Visionen standen und stehen sich auch heute nach wie vor als Gegensätze gegenüber. Die Medien bezeichneten damals die Konfrontation der beiden Kontrahenten als «Duell des Jahrhunderts» (vgl. Zeit-Fragen vom 26. März).

Erfolg der wirtschaftlichen Integration

Die Europäische Gemeinschaft erscheint heute im geschichtlichen Rückblick – auch aus der Sicht eines EU-Skeptikers – nicht ohne Glanz. Mancherlei Hindernisse an den Landesgrenzen sind Schritt für Schritt abgebaut worden. Der Austausch von Gütern und Dienstleistungen wurde erleichtert. Technische Unterschiede und Handelshemmnisse wurden beseitigt, so dass das Leben in Europa einfacher wurde. Der wirtschaftliche Schulterschluss war in mancherlei Hinsicht erfolgreich und wird heute breit akzeptiert.

1989 – fatale Weichenstellung

Im Jahr 1989 haben die Verantwortlichen in Brüssel ganz im Sinne Monnets Entscheidungen getroffen, die gravierende Auswirkungen und letztlich zum Schlamassel geführt haben, den wir heute erleben. Der neu gewählte Kommissionspräsident Jacques Delors legte einen Dreistufenplan zur Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion vor, der im Vertrag von Maastricht (1992) sein erstes Etappenziel erreichte. Die «immer engere Union der Völker Europas» (wie sie in den Römischen Verträgen festgehalten ist) erhielt nun mehr und mehr ein politisches Gesicht. Es ging nicht nur um eine gemeinsame Währung. Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik und Angleichungen in den Bereichen Justiz und Inneres kamen dazu. Es zeigte sich bald, dass sich diese Politik auf dünnem Eis bewegte.
Dänemark und Grossbritannien machten bei der Währungsunion nicht mit. Länder, die nicht hineingehörten, wurden in die Währungsunion aufgenommen. Länder, die die Bedingungen erfüllten, machten dagegen nicht mit. Die Stimmbürger in der Schweiz, die 1972 der grossen Freihandelszone zwischen den Ländern der EG und der EFTA noch mit 71 Prozent zugestimmt hatten, lehnten nun den Beitritt zum EWR ab. Im Gegensatz zum Freihandelsabkommen, das zwischen souveränen Ländern abgeschlossen wurde, sah der EWR die automatische Übernahme von EU-Recht und damit eine politische Einbindung vor.

Korrekturen ohne Ende

Nach «Maastricht» schritten die Verantwortlichen auf ihrem Weg zu einer politischen Union stetig voran. Im Vertrag von Amsterdam (1999) nahm die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik konkrete Formen an. Der freie Personenverkehr mit dem Unions-Bürgerrecht und verbunden mit der Migrations-, Asyl- und Zuwanderungspolitik wurden umgesetzt. Der Vertrag von Nizza (2003) brachte eine Vielzahl von «Reparaturen» der vorherigen Verträge und brach mit dem Einstimmigkeitsprinzip. Abstimmungen mit qualifiziertem Mehr wurden möglich. Diesmal legten sich die Iren quer und mussten belehrt werden. 2005 lehnten die Stimmbürger in Frankreich und in den Niederlanden den «Verfassungsentwurf für Europa» deutlich ab, so dass auf Volksabstimmungen in weiteren Ländern wohlweislich verzichtet und die «Übung» schliess­lich ganz abgebrochen wurde. Das war ein deutliches Signal. Aus diesem Fiasko ging der Vertrag von Lissabon  (2009) hervor, in dem zentrale Bestimmungen aus dem abgelehnten «Verfassungsentwurf» einfach in die bisherigen Verträge übertragen wurden. Die Iren sagten erneut nein. Die EU setzte die Iren erneut moralisch unter Druck, machte wieder einige Zugeständnisse, so dass diese letztlich wieder ja sagten. Auch heute besteht hinsichtlich der geplanten Fiskal- und Transferunion keine Einigkeit. Einige Staaten wollen sie ausserhalb der Verträge verwirklichen. Ende Juni findet in Brüssel ein Krisengipfel statt: Wie Bundeskanzlerin Merkel den Medien mitteilte, liegt ein Arbeitsplan zur Errichtung einer politischen Union auf dem Verhandlungstisch. Nur – das Flickwerk der Verträge und die ständigen Korrekturen und «Reparaturen», die niemand mehr überblickt, sind nicht geeignet, wirklich Vertrauen aufzubauen.

Welches «Europa» wollen die Bürger wirklich?

Wollen die europäischen Völker eine politische Union, oder wollen sie sie nicht? Nichts führt heute an dieser Gretchenfrage vorbei. Wankelmütige Politik, die Ereignisse der letzten Jahre, das Stimmungsbild, die zahlreichen Misstöne und Zerwürfnisse geben die Antwort: Es gibt kein Volk mit einem europäischen Vaterlandsbewusstsein, das diese Union tragen und für die es einstehen würde. Ohne Volk gibt es keine Demokratie, ist doch dieser Begriff aus dem griechischen Wort «Demos» (= Volk) abgeleitet. Die Länder Europas sind nicht bereit und willens, den grossen Schritt in einen gemeinsamen Bundesstaat zu machen – wie ihn Jean Monnet vor Augen hatte, als er in den 1950er Jahren begann, die «Vereinigten Staaten von ­Europa» zu propagieren. Die Gründe sind vielfältig und vielschichtig. Dabei geht es nicht nur um wirtschaftliche Fragen wie ausgeglichene Bilanzen oder die Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch um die politische Kultur und die individuelle Geschichte, die Lebensart und Gewohnheiten der Bevölkerung und vieles mehr. Die Unterschiede sind gross und zeichnen jedes Land für sich aus. Sie machen das Leben in Europa so reich und verunmöglichen es, die zahlreichen Völker politisch unter einen Hut zu bringen oder in ein einheitliches Korsett zu zwängen. Das zeigt auch die europäische Geschichte. Bundesrat Hans Schaffner hat es in einer Botschaftersitzung in den 1960er Jahren einmal treffend ausgedrückt: Man müsste die einzelnen Völker zu diesem Schritt «überlisten», und er habe sehr grosse Zweifel, ob dies gelingen werde (dodis.ch/30358).

Am Scheideweg: Rückbau oder «Weiterwursteln» wie bisher?

Naheliegend wären ein nüchternes Innehalten und ein Abschiednehmen von der fixen Vorstellung, dass die politische Integration zwangsläufig einfach immer weitergehen soll. Erwünscht wären echte Reformer, die kritisch prüfen, was in der EU gut funktioniert und was nicht, und die den Mut haben, allenfalls auch einen Rückbau vorzunehmen. Es geht nicht nur um den Euro und die Schulden. Ob die Zentralisierung der Landwirtschaftspolitik in Brüssel eine so gute Idee war, wage ich zu bezweifeln. Ist doch die Landwirtschaft wie kein anderer Wirtschaftszweig unmittelbar mit dem jeweiligen Land und der Bevölkerung verbunden und kann in Krisen für ein Land durchaus existentielle Bedeutung haben. Ich denke auch an die Subventionspolitik der EU im Rahmen der verschiedenen Fonds. Hunderte von Milliarden sind – gut gemeint – im Verlaufe der Jahrzehnte in die südlichen Länder geflossen, um den «Unternehmergeist» zu stärken, wie es in den Papieren aus Brüssel so schön heisst. Die heutigen Arbeitslosenzahlen zeigen, dass dieses viele Geld bei weitem nicht das erreicht hat, was man sich erhofft hatte.

Welche Antworten gibt das Europa-Modell der EFTA?

Die EFTA ist ein Vertragswerk, das die Souveränität der beteiligten Nationen bewahrt. Am 4. Januar 1960 unterschrieben die Schweiz, Österreich, Schweden, Dänemark, Grossbritannien, Irland und Portugal die Konvention von Stockholm, die die Grundlage der Europäischen Freihandels-Assoziation (EFTA) bildet. Art. 3 enthielt die Verpflichtung, die Zölle innerhalb der nächsten zehn Jahre aufzuheben und mengenmässige Einfuhrbeschränkungen abzuschaffen. Die Konvention liess Ausnahmen für den Fall zu, dass ein Land in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Im wesentlichen beschränkte sich die Konvention auf den Handel mit Industriegütern. Art. 21 wies ausdrücklich auf die Besonderheit der Landwirtschaft hin. Ihre Erzeugnisse wurden vom Zollabbau ausgenommen. Ziel der EFTA-Länder war es, die Spaltung in Europa zu überwinden und eine gesamteuropäische Freihandelszone zu errichten.
1972 gelang den Verhandlungsführern der EFTA und der Europäischen Gemeinschaft (EG) ein eigentlicher Durchbruch. Es gelang, für alle Länder der EG und der EFTA eine Freihandelszone einzurichten, die vorerst für Industriegüter galt und danach mehr und mehr auch in den Dienstleistungsbereich ausgeweitet wurde. Die Landwirtschaft blieb auch weiter den einzelnen Ländern überlassen.
Das Freihandelsabkommen von 1972 hat die Stimmbürger in der Schweiz in hohem Masse überzeugt. 71 Prozent und sämtliche Kantone begrüssten diesen Weg, der die Souveränität der beteiligten Länder bewahrte. Die Schweiz schloss in den folgenden Jahren – allein oder meist als Mitglied der EFTA – zahlreiche weitere bilaterale Verträge mit der EG ab, die auch den Dienstleistungsbereich erfassten. Je nach Zählart wurden damals zwischen 130 und 180 bilaterale Verträge abgeschlossen, die im Vergleich zu heute deutlich mehr Mitwirkungsrechte enthielten. Es war dies ein friedliches und respektvolles Nebeneinander unterschiedlicher Systeme. Die Länder der EG und der EFTA hatten die Hindernisse an den Grenzen abgebaut und ihr Ziel der Wirtschaftsintegration europaweit weitgehend erreicht.
2001 wurde die EFTA-Konvention vollständig überarbeitet. Neu dazu gehört auch die Personenfreizügigkeit sowie Regeln für den Handel mit Dienstleistungen, den Kapitalverkehr und den Schutz des geistigen Eigentums.
Seit den 1990er Jahren haben Freihandelsabkommen in der Weltwirtschaft an Bedeutung gewonnen. Seit die Doha-Runde der WTO gescheitert ist, hat sich dieser Trend weiter verstärkt. Die EFTA-Staaten haben schon seit einigen Jahren begonnen, ihre Freihandelspolitik auf Partner ausserhalb Europas auszudehnen. Heute verfügt die EFTA über ein Netzwerk aus einer Vielzahl von massgeschneiderten Freihandelsabkommen in der ganzen Welt. Ein Abkommen mit China wurde vor kurzem abgeschlossen, eines mit Indien steht bevor.

 Paradigmenwechsel

Die USA haben nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrem weltpolitischen Konzept ein einheitliches «Europa» eingeplant und aktiv darauf hingearbeitet. Damals war Kalter Krieg. Die verschiedenen Länder sollten ihre «Kleinstaaterei» überwinden und einen einheitlichen Block, eine immer engere Union, bilden. Jean Monnet hat diese Botschaft – wie oben schon dargelegt – bis zu seinem Tod über sein länderübergreifendes Netzwerk propagiert und dieses Projekt kontinuierlich vorangetrieben.
Nur – der Kalte Krieg, der für diese Politik Pate gestanden hat, ist längst vorbei. Kann dieses veraltete Konzept den Bedürfnissen der europäischen Nationen heute noch gerecht werden? Ist es zukunftstauglich? In der modernen Welt von heute lassen sich zwischenstaatliche Beziehungen viel besser auf eine freiheitliche, eigenverantwortliche Art über Verträge regeln. Jedes Land will als mündiger und souveräner Vertragspartner ernstgenommen werden. – Die Idee der immer enger werdenden supranationalen Union, die «Europa» zu einem Block vereint, ist ein Relikt aus dem Kalten Krieg des letzten Jahrhunderts und stammt im wesentlichen aus den USA. Wie lange soll die Fremdbestimmung noch andauern?
Es stimmt, dass die EFTA keine Machtbasis hat und keine politischen Ziele verfolgt. Dafür ist sie viel beweglicher als der schwerfällige Koloss EU. So ist es der EFTA in den letzten Jahren gelungen – oft noch vor der EU –, rund um den Globus mit einer Vielzahl von Ländern massgeschneiderte Freihandelsverträge abzuschliessen. Solche Verträge sind im Grossgebilde EU kaum möglich, weil die Interessen einer Vielzahl von Ländern zwangsläufig über einen Leisten geschlagen werden müssen.
Die beiden Modelle, wie Europa eingerichtet werden könnte, haben Auswirkungen auf die innerstaatlichen Strukturen der einzelnen Mitglieder: In einer politischen Union müssen die Strukturen der Mitgliedsländer angepasst werden, so dass sie zentral gelenkt werden können. Dieser Prozess ist bereits im Gange. «Überwindung der Kleinräumigkeit», «Fusionen aller Art», «grenzüberschreitende Regionalisierung» und «Einrichtung von Metropolitanregionen» sind Etappen auf dem Weg zu grossen Räumen, die zentralistisch geführt werden und – notabene – nicht durch gewählte Gremien, sondern durch vom Grosskapital ernannte Vertreter.

Lebendige Demokratie

Nun ist es aber so, dass gerade in den kleinräumigen Strukturen sich die Demokratie am besten entfaltet, weil sie von der Bevölkerung direkt gestaltet und mitgetragen wird. Massgeschneiderte Verträge können auf solche Eigenheiten am besten Rücksicht nehmen.
Die EU-Mitglieder haben bereits heute einen grossen Teil ihrer Souveränität an die Zentrale abgegeben. Entsprechend haben sie in manchen Ländern ihre Eigenverantwortung abgebaut. In der Euro- und Schuldenkrise hat sich diese Einstellung als fatal erwiesen. Dieses Manko an Eigenverantwortung kann mit einem Mehr an Überwachung und Bevormundung nicht wettgemacht werden. Dieser Weg verhindert ein Zusammenleben in Freiheit und Würde, wofür gerade die griechische Kultur vor mehr als 2000 Jahren in Europa den Boden bereitet hat.
Es ist zu hoffen, dass solche Überlegungen am Krisengipfel in Brüssel in die Erwägung mit einbezogen werden und dass bei wegweisenden Beschlüssen die Stimmbürger das letzte Wort haben.     •

(Quelle: Zeit-Fragen Nr. 27 vom 25. Juni 2012)

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