2016-07-12

Europa nach dem britischen Volksentscheid


von Karl Müller

Zunächst muss man gratulieren und kann sich nur freuen: Mehr als 17 Millionen britische Bürgerinnen und Bürger haben sich am 23. Juni 2016 nicht einschüchtern lassen: weder von ihrem Ministerpräsidenten Cameron noch von ihrem Schatzkanzler Osborne; nicht von Angela Merkel und Siegmar Gabriel, auch nicht von François Hollande; nicht von Martin Schulz und Jean Claude Juncker und auch nicht von Donald Tusk. Auch vom US-Präsidenten Obama, von den Direktoren von IWF und Weltbank haben sie sich nicht davon abbringen lassen, mit fast 52 Prozent der Abstimmenden und einer Wahlbeteiligung von mehr als 70 Prozent für einen Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union zu entscheiden. Das ist beachtlich!
Alle nachgeschalteten Versuche, den Menschen die direkte Demokratie und ihren Entscheid madig zu machen, sind nichts anderes als der Ausdruck einer politischen Bankrotterklärung. Für diese steht wohl am sinnbildlichsten der deutsche Bundespräsident Gauck, der nach der britischen Abstimmung meinte, heute seien nicht mehr die Eliten das Problem, sondern die Bevölkerungen. Das Wort «Völker» wollte er wohl nicht in den Mund nehmen.
Gauck steht für sehr viele der kakophonen öffentlichen Reaktionen auf den Entscheid der Briten, die eins gemeinsam haben: Man tut so, als hätten die Briten für ihren und den Untergang Europas gestimmt und problematisiert von vorne bis hinten – anstatt das zu tun, was angemessen wäre: den Briten die Hochachtung dafür auszusprechen, dass sie – dieses Mal ganz friedlich – Weltgeschichte schreiben.
Es ist doch eigentlich etwas ganz Normales, dass politische Fragen kontrovers diskutiert werden und nichts in der Politik alternativlos ist. Es ist gerade der Wesenskern des Politischen, zwischen verschiedenen Alternativen, für die es alle Argumente gibt, zu entscheiden. Das ist ein Kern der Demokratie. Und da müssen die Bürger das letzte Wort haben. Sonst bräuchte es keine Wahlen und Abstimmungen mehr, sondern in unserer so modernen Zeit nur noch Hochleistungscomputer (der griechische Philosoph Platon träumte vor mehr als 2000 Jahren noch von der Herrschaft der Philosophen), die, gespickt mit allen Informationen, die optimale Entscheidung berechnen würden – eine absurde, menschenfeindliche Vorstellung.
Eigentlich hätten sich alle Verantwortlichen in der EU und in Grossbritannien auf beide möglichen Ausgänge des britischen Volksentscheids vorbereiten müssen, um nach dem Entscheid mit der gebotenen Ruhe, Umsicht und Fairness über die Folgen zu verhandeln. Was statt dessen zu beobachten ist, erinnert eher an ein absurdes Theater mit verteilten Rollen – und niemand soll so richtig wissen, was gespielt wird.
Anzunehmen ist, dass die Verantwortlichen in der EU sehr viel Aufregung produzieren, weil sie davon abschrecken wollen, dass andere Völker es den Briten nachmachen. Äusserungen in diese Richtung gibt es zuhauf.
Anzunehmen ist leider ebenfalls, dass auch nicht jeder, der sich prominent auf der Seite der Brexit-Befürworter am britischen Abstimmungskampf beteiligt hat und nun wieder äussert, nur ehrliche Absichten hat.
Aber warum kommen die mehr als 17 Millionen ungenannten britischen Bürgerinnen und Bürger, die mit ihren ganz eigenen Argumenten für einen Austritt aus der EU gestimmt haben, jetzt nicht mehr zu Wort?
Da ist es doch ratsam, nicht allzu viel auf das zu geben, was derzeit von prominenter Seite gesagt und geschrieben wird. Statt dessen braucht es den Einsatz dafür, dass die Entscheidung der britischen Bürger wirklich ernstgenommen wird. Von allen verantwortlichen Politikern ist zu verlangen, sich wieder darauf zu besinnen, was ihre Aufgabe ist, nämlich Diener ihrer Völker, Diener ihrer Bürger zu sein!
Das bedeutet aber, mit allen Drohungen und Machtkämpfen aufzuhören, endlich innezuhalten und sich die Frage zu stellen: Was ist notwendig, damit die politischen Entscheidungen in Grossbritannien und in allen anderen EU-Staaten wieder so aussehen, dass es die Politik des Volkes ist?
Für die Verantwortlichen in der EU und in Grossbritannien heisst das auch, so über die Modalitäten des Austritts zu verhandeln, dass sowohl den Briten als auch allen anderen Völkern in der EU grösstmögliche Gerechtigkeit widerfährt; denn die Gemeinwohlverpflichtung der Politik verbietet die Beschränkung auf eigene Interessen auf Kosten anderer Menschen und Völker. Das Resultat darf kein Nullsummenspiel sein, verlangt sind Win-win-Ergebnisse.
Die Furcht der EU-Verantwortlichen davor, auch andere Völker könnten dem britischen Beispiel folgen, wenn die Briten mit ihrem Austritt aus der EU zu gut wegkämen, ist offensichtlich so gross, dass sie so tun, als müsse ein Austritt aus der EU wie ein Verbrechen behandelt werden. Wäre die EU wirklich so attraktiv, wie behauptet wird, dann wäre es doch ein leichtes, alle anderen Völker von deren Vorzügen zu überzeugen – und den Entscheid der Briten zu akzeptieren und alles dafür zu tun, dass es ihnen auch in Zukunft so gut wie möglich geht – auch ausserhalb der EU. Hand aufs Herz, Ihr Verantwortlichen in der EU … seid Ihr wirklich davon überzeugt, dass die EU für deren Staaten und Völker das Beste ist? Oder zweifelt Ihr selbst, wenn Ihr Euch ehrlich befragt? Wisst Ihr vielleicht zu viel darüber, dass die EU anderen Interessen dient als denen der Völker?
Das moderne Totschlagargument gegen unerwünschte Reaktionen von Bürgern auf eine falsche Politik ist die Behauptung, solche Reaktionen seien das Ergebnis populistischer Stimmungsmache. Behauptet wird: Die Verantwortlichen in der Politik machen doch eigentlich alles richtig, und die Bürger würden ihnen ja auch folgen – wenn nur nicht diese Populisten wären. Wäre es nicht besser, die Politiker würden die Voten ihrer Völker als Auftrag verstehen, aber nicht, wie derzeit den Briten gegenüber, mit Schmollmund und Drohgebärden, sondern mit höchstem Respekt vor dem Willen der Völker?    •

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