2016-10-10

Völkerwanderung und Staatsversagen – rechtliche, politische und kulturelle Aspekte der Flüchtlingsfrage

von Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Dr. h.c. Hans Köchler*

«Was die aktuelle Flüchtlings- oder Migrationsproblematik betrifft, so erinnere ich mich an keine Situation, in der die veröffentlichte der öffentlichen Meinung so diametral entgegengesetzt gewesen wäre. Im Auseinanderklaffen der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung sehe ich ein ganz grundsätzliches Problem für unser demokratisches Gemeinwesen.»
Ich werde meine Ausführungen in drei Abschnitte gliedern.
Zunächst werde ich die Konstellation im Mittleren Osten erörtern und einen kurzen historischen Rückblick bis zum Staatsversagen in der Gegenwart skizzieren.
In einem zweiten Schritt werde ich mich mit den Ereignissen beschäftigen, die ich als Staatsversagen und Destabilisierung in Euro­pa bezeichne.
Schliesslich werde ich die Frage nach den Zielen und Absichten stellen, die hinter diesen Entwicklungen stehen. «Neue Weltordnung?» (mit Fragezeichen) könnte der Kurztitel für diesen letzten Abschnitt meiner Ausführungen sein.
Bevor ich mich mit den Problemen im einzelnen beschäftige, möchte ich jedoch einige Vorbemerkungen machen:
Was die aktuelle Flüchtlings- oder Migrationsproblematik betrifft, so erinnere ich mich an keine Situation, in der die veröffentlichte der öffentlichen Meinung so diametral entgegengesetzt gewesen wäre. Im Auseinanderklaffen der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung sehe ich ein ganz grundsätzliches Problem für unser demokratisches Gemeinwesen.
Ich werde nicht die bereits bekannten Fakten nochmals im Detail präsentieren; ich möchte keine Eulen nach Athen tragen. Es geht mir vielmehr um die Gründe, warum wir hier und jetzt – nicht nur im Nahen und Mittleren Osten, sondern zunehmend auch in Europa, und zwar sowohl auf innerstaatlicher wie auf zwischenstaatlicher oder, wie man oft sagt, «übernationaler» Ebene – mit einem Staatsversagen konfrontiert sind, dessen Folge im Nahen Osten beziehungsweise dessen Ursache hier in Europa die gegenwärtige sogenannte Völkerwanderung ist.
Es geht mir dabei auch um die geopolitische Dimension der Ereignisse und insbesondere um die Frage der beabsichtigten beziehungsweise unbeabsichtigten Folgen dieser Entwicklung. Fragen in diesem Zusammenhang sind etwa: Ist die Völkerwanderung nach Europa tatsächlich eine nicht vorhergesehene – und das würde dann auch heissen: nicht beabsichtigte – Folge militärischer Interventionen des Westens in dieser Region des Mittleren Ostens, einschliess­lich Nordafrikas, und wäre dann, wenn dem so sein sollte, das passende Motto dasjenige vom «Fluch der bösen Tat»? Oder – und dies ist die zweite mögliche Überlegung – gibt es Zufälle beziehungsweise Zusammenhänge, die auf ein grösseres geostrategisches Konzept hindeuten?
Bei der Analyse in den folgenden drei Abschnitten leitet mich – insbesondere was die Europäische Union betrifft – auch noch folgende Fragestellung: Ist das faktische Überranntwerden – mit dem Ausserkraftsetzen praktisch aller rechtlichen und sicherheitstechnischen Barrieren – gewollt, und wenn ja, in welchem Ausmass, oder ist es schlicht ein Symptom einer Wohlstands- und Spassgesellschaft, die den Willen zur Selbstbehauptung verloren hat?
Als Österreicher würde ich im Hinblick auf das, was sich letztes Jahr Monate hindurch in grossem Ausmass vor aller Augen abgespielt hat, die Frage stellen: Warum hat die Republik in diesen langen Monaten vor dem Gesetz des Dschungels kapituliert? Ohne auf die sattsam bekannten Einzelheiten einzugehen, verweise ich nur darauf, dass der Staat Hunderttausende Menschen hat einreisen lassen, ohne in den meisten Fällen zu wissen, um wen es sich handelte, und dass er diese Menschen dann – quasi als staatliche Schlepperorganisation – zum grössten Teil an die deutsche Grenze transportiert hat.
Vorab möchte ich auch noch eine terminologische Klärung vornehmen: Es handelt sich bei den in Europa Einwandernden im strengen Sinne nicht um Kriegsflüchtlinge, sondern um Migranten – konkret: Wohlstandsmigranten –, da sie entweder selbst aus sicheren Ländern oder direkt aus sicheren Drittländern kommen. Das ist praktisch ausnahmslos der Fall. Ich werde mich dazu später vor allem in rechtlicher Hinsicht äussern.

I. Zur Konstellation im Mittleren Osten und kurzer historischer Rückblick


«Die mehr oder weniger schlecht oder mehr oder weniger gut – je nachdem, wie Sie wollen – völkerrechtlich beziehungsweise humanitär getarnten Aggressionskriege, ob im oder ohne den Namen der Vereinten Nationen – in Afghanistan, im Irak, in Libyen, bis zum heutigen Tag auch noch in Syrien – haben nicht nur die politische Ordnung in den betroffenen Ländern nachhaltig zerstört und sogenannte ‹gescheiterte Staaten› (‹failed states›) geschaffen, sondern eine Kettenreaktion heraufbeschworen, an deren vorläufigem Ende die unkontrollierte Masseneinwanderung nach Europa steht.»
Somit komme ich zum ersten Teil meiner Ausführungen: zur Erörterung der Konstellation im Mittleren Osten mit einem kurzen historischen Rückblick.
Persönlich darf ich hinzufügen, dass ich die Länder beziehungsweise die Region, um die es hier geht, seit den siebziger Jahren laufend besucht habe und deshalb hier ein Urteil zu formulieren suche, das nicht nur auf Zeitungslektüre, sondern auf persönlichen Beobachtungen und der Zusammenarbeit mit Intellektuellen, Politikern und Organisationen in den Ländern des Mittleren Ostens basiert.

Zusammenbruch der künstlichen Ordnung der Siegermächte

Was wir gegenwärtig beobachten, ist der Zusammenbruch der nach dem Ersten Weltkrieg durch den Willen der Siegermächte, der damaligen Kolonialmächte, aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches geschaffenen Ordnung. Nicht nur der sogenannte Islamische Staat (IS) von heute proklamiert das in den aktuellen Debatten so oft konstatierte «Ende von Sykes-Picot». (Damit ist der Geheimvertrag gemeint, der 1916 zwischen den Aussenministern Grossbritanniens und Frankreichs über die Aufteilung der Interessensphären in der Region des Mittleren Ostens geschlossen wurde.)
Man muss hier auch folgendes festhalten: Die im Vergleich zur nachfolgenden Ordnung gewissermassen – vielleicht ist das auch ein bisschen nostalgisch gesagt – harmonische politische Geographie des Osmanischen Reiches – mit historisch gewachsenen Räumen als Verwaltungseinheiten – wurde von künstlichen, oftmals ethnisch inhomogenen Staatsgebieten nach dem Muster europäischer Nationalstaaten abgelöst, was konkret oftmals bedeutete, dass man die Siedlungsgebiete ganzer Völker willkürlich durchtrennte – siehe das Schicksal der Kurden – oder dass man Ministaaten gleichsam als Domaine réservé der jeweiligen Grossmachtinteressen aus historisch gewachsenen Einheiten herausschnitt. Faktum ist – wie immer man dazu stehen mag –, dass zum Beispiel der Ölstaat Kuwait aus der seinerzeitigen Vilayet Basra herausgelöst wurde. (Vilayet ist ein Verwaltungsbezirk in der Zeit des Osmanischen Reiches.) Kuwait und das Gebiet der heutigen Stadt Basra im Irak waren eine historisch gewachsene Verwaltungseinheit.
Gar nicht näher eingehen möchte ich hier auf die Folgen der sogenannten Balfour-Deklaration von 1917, mit der Grossbritannien faktisch den immer noch ungelösten Nahost-Konflikt heraufbeschworen hat, weil man über das Gebiet von Palästina, für das England nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches ein Völkerbundmandat erhalten hatte, ohne Rücksichtnahme auf die arabische Bevölkerung verfügte – ein Gebiet, das man insgeheim bereits – siehe die in Euro­pa fälschlich idealisierte Geheimmission des «Lawrence of Arabia» – den Arabern versprochen hatte.

Selbstbehauptung im Rahmen der Ost-West-Rivalität

Die inhomogenen Nationalstaaten in der Region – wie etwa der Irak mit seiner komplexen multiethnischen und multireligiösen Zusammensetzung (Kurden, Araber, Moslems, und hier wiederum Sunniten und Schiiten, Christen, Jesiden) – konnten beziehungsweise können nur durch eine starke Zentralgewalt zusammengehalten werden. Alles andere wäre eine Illusion. Es wäre unehrlich zu erwarten, dass man einen Staat, den die Siegermächte sozusagen durch Beschluss von aussen geschaffen haben, mit einer in Euro­pa über Jahrhunderte hinweg eingeübten Methode der Politik zusammenhalten könne. In der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg war für den Bestand der staatlichen Ordnung in diesen Ländern auch entscheidend, dass es ein – wenngleich prekäres – Machtgleichgewicht zwischen den zwei damaligen Supermächten gab. Dies gab der jeweiligen Regierung beziehungsweise dem jeweiligen Machthaber im Mittleren Osten so etwas wie einen Manövrierspielraum zwischen Ost und West. Indem man versucht hat, zwischen den zwei miteinander rivalisierenden Mächten zu lavieren, allenfalls auch sie gegeneinander auszuspielen, konnte man die Interessen des eigenen Staates einigermassen behaupten.

Erwachendes arabisches Nationalbewusstsein

In dieser Zeit war auch das erwachende panarabische Nationalbewusstsein ein stabilisierender Faktor. Es ging dabei darum, das Gemeinsame zwischen allen diesen Staaten zu betonen. Die arabische Sprache und Kultur war der Kitt zwischen religiös beziehungsweise ideologisch ganz unterschiedlichen Gemeinwesen. Gerade die Betonung der gemeinsamen arabischen Nation (im Sinne von Kulturnation) ermöglichte eine Überwindung religiöser Gegensätze. In diesem Rahmen ist auch die damals politisch in der gesamten Region äusserst einflussreiche Rolle der (säkularen) Baath-Partei zu sehen, welche übrigens von einem syrischen Christen gegründet worden war. Der seinerzeitige Slogan – in den sechziger, siebziger, achtziger Jahren nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien und im Ägypten von Nasser – war derjenige von der einen arabischen Nation, welche in Form mehrerer Staaten – insgesamt mehr als 20 – existiere. (In einem Land wie dem Irak, das ethnisch nicht homogen zusammengesetzt war, war diese Ideologie allerdings innenpolitisch umstritten, wie sich auch am Konflikt in der kurdischen Region zeigte.)

Die Ära der einzigen Weltmacht

Mit dem Ende des Kalten Krieges, das heisst, mit dem Kollaps des Kommunismus, also ab 1989, fand man sich dann plötzlich einer einzigen Weltmacht ausgeliefert. Übrigens hat in den Tagen und Monaten nach dem Zerfall des Ostblocks und dem Ende der Sowjetunion der damalige Präsident des Irak, Saddam Hussein, das daraus resultierende Dilemma klar erkannt, als er 1990 eine arabische Gipfelkonferenz zur Neubewertung der geopolitischen Lage initiierte. Auch wenn er sich gleich am Anfang der Problematik bewusst war, so hat er – muss man rückblickend konstatieren – zum Schaden für sein eigenes Land nicht die richtigen Schlussfolgerungen daraus gezogen.
Man darf auch nicht übersehen, dass der arabische Nationalismus, also die Betonung des gemeinsamen Erbes, der Hinweis darauf, dass man eine Nation bilde, die auf Grund der historischen Umstände in verschiedenen Staaten existiere, gut in die Grundstimmung der Ära der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg passte.

Zum Staatsversagen im Nahen und Mittleren Osten

Dies bringt mich zu dem weiteren Aspekt, den ich mit «Staatsversagen im Nahen und Mittleren Osten» umschreibe. Den Begriff «failed state» (gescheiterter Staat) haben übrigens die Amerikaner eingeführt – allerdings zumeist zur Rechtfertigung ihrer eigenen Interventionen nach folgendem Muster: Man konstatiert zunächst, dass es irgendwo eine «failed state»-Situation gebe, so dass man geradezu verpflichtet sei, einzugreifen. Tatsache ist aber, wie die jüngere Geschichte gezeigt hat, dass durch militärische Aktionen und Interventionen sehr oft bislang relativ stabile Staaten zu gescheiterten Staaten, sogenannten «failed states», gemacht wurden.

Rückbesinnung auf den Islam als Reaktion auf das ideologische Monopol des Westens

Nach dem Ende des Kalten Krieges konnten sich, wie schon angedeutet, die staatlichen Systeme gegenüber dem politisch-ideologischen Druck der USA, die plötzlich die einzige Weltmacht, ja globale Hegemonialmacht, geworden war, nicht mehr behaupten. Dies bedeutete für die einzelnen Systeme in diesen Staaten in der Folge auch eine Delegitimierung gegenüber der eigenen Bevölkerung. Es bildete sich – ich habe dies noch in lebhafter Erinnerung aus Gesprächen, insbesondere in Bagdad Anfang der neunziger Jahre, mit Persönlichkeiten aus der gesamten arabischen Welt, nicht nur dem Irak – schon damals ziemlich schnell eine Art ideologisches Vakuum, das ebenfalls ziemlich rasch und umfassend durch den Islam gefüllt wurde. Auch im Irak entdeckte der bisher streng säkular eingestellte Präsident plötzlich seine religiöse Ader. (Was die Rückbesinnung auf die Religion und deren politischen Stellenwert betrifft, so hat dieser Prozess in Iran – also im schiitischen Umfeld – allerdings schon früher eingesetzt. Mehr oder weniger als Gegenreaktion auf den zwanghaften Versuch des Schah Irans, das Volk in Richtung auf westliche Werte und westliche Lebensführung «umzupolen», hat sich dort eine Volksbewegung auf der Grundlage des Islam als Identitätsfaktor gebildet, was sodann zum Umsturz von 1979 führte.)
«Die unmittelbare Folge derartiger Interventionen sind, wie die Weltöffentlichkeit inzwischen zur Kenntnis nehmen musste, Bürgerkriege und Flüchtlingsströme. In all den Fällen, die ich erwähnt habe, haben wir es mit einem gezielt und direkt herbeigeführten Staatsversagen zu tun. Das ideologische Instrument, dessen man sich bediente, um diese destabilisierenden Interventionen zu rechtfertigen, ist dasjenige der sogenannten humanitären Intervention oder – wie es in der letzten Version, weil es irgendwie weniger verfänglich klingt, heisst – der sogenannten Schutzverantwortung (‹responsibility to protect›).»

Zerstörung stabiler Staaten durch militärische Interventionen

Das traumatische Ereignis, das schliess­lich das Ende des Panarabismus besiegelte, war die Invasion Kuwaits durch den Irak im Sommer 1990. Dies bedeutete in der Folge die effektive Ausschaltung des Irak als eines regionalen Akteurs im Golf-Krieg des darauffolgenden Jahres. Der Prozess der politischen «Neutralisierung» und Marginalisierung des Irak hat sich dann durch mehr als ein Jahrzehnt als Folge der umfassenden Wirtschaftssanktionen fortgesetzt, die faktisch von den USA und ihren Verbündeten, offiziell aber im Namen der Vereinten Nationen, über den Irak verhängt worden waren. Dies waren meines Wissens die umfassendsten und mörderischesten Zwangsmassnahmen, die jemals im Namen der Organisation der Vereinten Nationen durchgesetzt worden sind – mit dem Ergebnis von bis zu einer Million, wenn nicht mehr als einer Million Toten. Auch wenn ich darüber hier nicht im Detail sprechen kann, so muss man dies im Auge behalten, wenn man verstehen will, was sich heute im Irak und in der Region rundherum, auch in Syrien, abspielt. Tatsache ist, dass diese Sanktionen als Verbrechen an einem ganzen Volk im Namen der Weltgemeinschaft historisch einmalig sind. Nach den noch immer nicht umfassend aufgeklärten Ereignissen eine Dekade später, nämlich am 11. September 2001, hat der durch nichts mehr gebremste Machtwille der Vereinigten Staaten nach und nach der alten Ordnung in der Region den Todesstoss versetzt. Die mehr oder weniger schlecht oder mehr oder weniger gut – je nachdem, wie Sie wollen – völkerrechtlich beziehungsweise humanitär getarnten Aggressionskriege, ob im oder ohne den Namen der Vereinten Nationen – in Afghanistan, im Irak, in Libyen, bis zum heutigen Tag auch noch in Syrien – haben nicht nur die politische Ordnung in den betroffenen Ländern nachhaltig zerstört und sogenannte «gescheiterte Staaten» («failed states») geschaffen, sondern eine Kettenreaktion heraufbeschworen, an deren vorläufigem Ende die unkontrollierte Masseneinwanderung nach Europa steht. Dies bringt mich nunmehr zum Hauptthema der heutigen Ausführungen.

Aspekte des Staatsversagens in der Region

Zwei Aspekte der Auswirkungen dieses Staatsversagens in der Region möchte ich hier unterscheiden. Einerseits, also Aspekt Nummer eins: Menschen fliehen, weil der Staat im Krieg versinkt. Dies ist zum Beispiel die Situation im Irak, in Libyen, aber auch in Syrien und, im Westen kaum beachtet, im Jemen (wo – wie in Syrien – ein mit ausländischer Unterstützung äusserst brutal geführter Bürgerkrieg tobt). Zweiter Aspekt, der vom ersten streng zu unterscheiden ist: Der im Chaos versinkende Staat wird zum Aufmarschgebiet beziehungsweise zur logistischen Basis für die Einwanderung nach Europa aus einer anderen Region. Dafür ist das klassische Fallbeispiel Libyen. Das Land ist faktisch zum Aufmarschgebiet und zur logistischen Schaltstelle für die Organisation der Massenwanderung aus den Ländern Afrikas südlich der Sahara geworden. Wir haben es hier mit einem «Staat» zu tun, der als souveräne Einheit effektiv nicht mehr existiert, wo es zwei Regierungen, zwei Parlamente und jede Menge von rivalisierenden Milizen und Regionalautoritäten gibt – auf einem riesigen Territorium, das früher «Grosse sozialistische libysch-arabische Volksdschamahariya» hiess.
Wenn man diese Entwicklungen Revue passieren lässt, muss man sich auch dessen gewärtig sein, dass es eine effektive panarabische Organisation, welche Ordnung schaffen könnte, nicht gibt – und letztlich auch nie gegeben hat. Die Liga der arabischen Staaten, die sich Ende Juli in Mauretanien zur Erörterung der Lage getroffen hat, kann realpolitisch nur völlig unverbindliche Erklärungen abgeben. Obwohl sie als regionale Organisation gemäss ihrem Statut die Aufgabe hätte zu stabilisieren, kann sie sich nur in der Rolle des passiven Beobachters üben. Tatsache ist, dass diese Organisation durch ihr Agieren in der jüngeren Geschichte eher zu Aggressionskriegen eingeladen hat, wie etwa das Beispiel des Irak zeigt.
«Rückblickend kann man heute sagen, dass die USA nach dem Zerfall des kommunistischen Imperiums die Gunst der Stunde zu nutzen suchten, um ihre hegemoniale Position ein für alle mal zu sichern – ein Anliegen, das in der nationalen Sicherheitsdoktrin von Bush junior ein Jahrzehnt später als der Wille der USA proklamiert wurde, niemals eine Situation strategischer Parität mit einem anderen Staat zu akzeptieren. Darin zeigt sich, so könnte man in einem weltgeschichtlichen Rückblick sagen, die Unersättlichkeit und der Selbstbetrug der Macht.»
«Die [Europäische] Union erweist sich immer deutlicher als ein dysfunktionales Gebilde, dessen Funktionäre und Sachwalter widersprüchliche Regelungen nach politischem Gutdünken exekutieren. Dies gilt für die Flüchtlings- beziehungsweise Migra­tionsproblematik ebenso wie für die gescheiterte Währungspolitik.»

II. Staatsversagen und Destabilisierung in Europa

Damit komme ich – in der zeitlichen Abfolge der Ereignisse – zum Staatsversagen und der politischen und gesellschaftlichen Destabilisierung in Europa. Auch hier möchte ich nicht die sattsam bekannten Fakten im Detail präsentieren. Es geht mir vor allem um eine politische, rechtliche und gesellschaftliche Analyse der Problematik, mit der wir in Europa konfrontiert sind.

Die EU erweist sich als politische Fehlkonstruktion

Was den politischen Aspekt betrifft, so muss man leider zur Kenntnis nehmen, dass sich die Europäische Union als völlige Fehlkonstruktion erwiesen hat. Ich konstatiere hier ein Staatsversagen im zwischenstaatlichen Bereich. In der Handhabung der «Flüchtlingskrise» (zur Terminologie werde ich mich noch genauer äussern) hat sich die Europäische Union als ein Moloch erwiesen, der mit der Prätention eines Gesamtstaates auftritt, aber sich in einem ineffektiven, in sich widersprüchlichen Regelwerk aus nationalen und überstaatlichen Kompetenzen sozusagen verheddert. Die Union erweist sich immer deutlicher als ein dysfunktionales Gebilde, dessen Funktionäre und Sachwalter widersprüchliche Regelungen nach politischem Gutdünken exekutieren. Dies gilt für die Flüchtlings- beziehungsweise Migra­tionsproblematik ebenso wie für die gescheiterte Währungspolitik.

Unehrliche Politik und Vertrauensverlust

Im Zusammenhang mit der sogenannten Flüchtlingspolitik zeigt sich das Scheitern der Union konkret in folgendem: zunächst in einer Politik des weit offenen Scheunentores, das heisst im Bestehen auf der Fortsetzung des Schengen-Reglements (Reisefreiheit zwischen den Schengen-Vertragsstaaten) bei gleichzeitigem völligem Verzicht auf den Schutz der Aussengrenzen. Trotz der vielen Erklärungen und Versprechungen einzelner Politiker und Bürokraten hat sich daran bis zum heutigen Tage nichts geändert. Es gibt bis jetzt keinen effektiven Schutz der Aussengrenzen, ohne welchen das ganze Schengen-Regime überhaupt keinen Sinn macht. Wenn man geradezu hymnisch die Wichtigkeit der Reisefreiheit beschwört und die Durchführung von Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raumes tabuisiert, obwohl die Aussengrenzen nicht gesichert sind, dann ist dies Betrug an der Bevölkerung. Ein Land wie Ungarn, das bereits im letzten Jahr die geltenden Bestimmungen getreu umzusetzen versucht hat, wird in diesem Bemühen, wie wir gesehen haben, sabotiert und gesamteuropäisch diskreditiert. Unter diesen Umständen braucht es einen nicht zu verwundern, dass die Bevölkerung mehr und mehr das Vertrauen in die europäischen Instanzen, die so unehrlich agieren, verliert. Der Ordnung halber sei hier hinzugefügt, dass immerhin die Republik Österreich über Initiative des jüngsten Regierungsmitgliedes, des Aussenministers, nach und nach sich den Standpunkt von Ungarn zu eigen gemacht und die Migrationspolitik mit den West-Balkanländern und den sogenannten Visegrad-Staaten (Polen, Slowakei, Ungarn, Tschechische Republik) abgestimmt hat, was auch bedeutete, dass man insbesondere Mazedonien bei einer effektiven Kontrolle der Grenze zu Griechenland ermutigt und unterstützt hat.
Der zweite Gesichtspunkt, was das Scheitern der EU und das Glaubwürdigkeitsdefizit des europäischen Systems betrifft, ist für mich die unehrliche Handhabung des sogenannten Dublin-Reglements – unter Umständen, in denen nichts, aber auch gar nichts zum gemeinsamen Schutz der Aussengrenzen unternommen wird. Durch diese fortwährende Unterlassung ist diese Verordnung schon längst obsolet geworden. Die Anhaltung und Erstregistrierung in Ländern wie Griechenland, die wirtschaftlich in Schwierigkeiten sind, hat sich schlicht und einfach als illusorisch erwiesen. Dass in der jetzigen Situation (Juli 2016) an dieser Front eine gewisse Erleichterung eingetreten ist, hängt nicht damit zusammen, dass man die Aussengrenze tatsächlich schützen und das Dublin-Reglement umsetzen würde, sondern einzig und allein mit anderen, ad hoc getroffenen Vereinbarungen. Einerseits geht es hier um die Abstimmung der Migrationspolitik, welche die Republik Österreich mit den West-Balkanländern erreicht hat, andererseits auch um die Haltung der Türkei, die – aus Gründen, die ich hier nicht im Detail erörtern kann – nunmehr sehr wohl imstande und bereit ist, die Ausreise von Menschen, die sich auf ihrem Staatsgebiet befinden, besser zu kontrollieren.
«Wesentliches Kriterium der Anerkennung eines Staates als souveränes Mitglied der internationalen Gemeinschaft ist und bleibt die Kontrolle über das eigene Territorium mit der Aussicht auf Dauer. Dies ist auch die klassische völkerrechtliche Definition für die Anerkennung eines Gemeinwesens als Staat.»

Selbstauflösung der Staatshoheit durch fehlende Grenzkontrolle

Dies bringt mich zu einem weiteren Aspekt des Staatsversagens und der Destabilisierung in Europa, nämlich zum gesellschaftlich-poli­tischen Scheitern. Die auf dem Papier, also formalrechtlich, souveränen Staaten haben im letzten Jahr samt und sonders weder den Willen noch die Fähigkeit gezeigt, ihre Souveränität tatsächlich auszuüben. (Mit Bezug auf Österreich gibt es hier, wie gesagt, seit Anfang dieses Jahres eine gewisse Änderung, weil jetzt Aussen-, Innen- und Verteidigungsminister kooperieren und man es plötzlich wagt, öffentlich davon zu sprechen, dass die Grenze des Landes gesichert werden müsse. Bis vor kurzem hatte man Angst, ins rassistische oder faschistische Eck gestellt zu werden, sollte man darauf verweisen, wie wichtig es ist, die Souveränität über das Staatsterritorium auszuüben.) Wesentliches Kriterium der Anerkennung eines Staates als souveränes Mitglied der internationalen Gemeinschaft ist und bleibt die Kontrolle über das eigene Territorium mit der Aussicht auf Dauer. Dies ist auch die klassische völkerrechtliche Definition für die Anerkennung eines Gemeinwesens als Staat. Staat bedeutet die Existenz einer Autorität, die ein bestimmtes, klar definiertes Territorium kontrolliert und diese Kontrolle nicht nur über Nacht oder bis zum nächsten Tag ausübt, sondern mit der Aussicht auf Dauer. Auf einer Politik der «offenen Grenzen» zu bestehen ist insofern irreführend und eigentlich ein dummer Euphemismus. Staat bedeutet nun einmal, dass es sich um ein Gemeinwesen handelt, das imstande ist, eine Abgrenzung zwischen dem eigenen und einem anderen Gebiet vorzunehmen. Diese Bedingung, nämlich die effektive Kontrolle über das Territorium, ist derzeit in vielen Staaten Europas nicht mehr gegeben.
Was Österreich betrifft, so gibt es jetzt zumindest ein Bekenntnis seitens des Verteidigungs- und des Aussenministers, dass man etwas unternehmen muss. Sollte es allerdings zu einem Massenansturm an der Südgrenze kommen, dann hätte das Land zurzeit nicht die Ressourcen, die Grenze effektiv zu schützen. Tatsache ist, dass im Verlauf des letzten Jahres – bis zur Abstimmung mit den Bal­kan­ländern – sich Migranten nach Belieben Zutritt verschaffen und ihre Identifikation durch die Behörden – und damit die gesetzlich erforderliche Registrierung – verhindern konnten. Die illegal in Österreich eindringenden Personen konnten – das hat man ihnen nobel anheimgestellt – selbst entscheiden, ob sie bleiben oder wohin sie weiter ziehen wollten. Die Exekutive und das Militär beschränkten sich auf die Rolle des impotenten Beobachters und auf humanitäre Hilfe.

Delegitimierung des Staates nach aussen und nach innen

Ich möchte noch auf zwei weitere Aspekte in rechtlicher und staatspolitischer Hinsicht verweisen, nämlich auf Delegitimierung und Destabilisierung.
Erstens: Wir haben es hier mit einer zweifachen Delegitimierung des Staatswesens – nach innen und aussen – zu tun. Was die Delegitimierung nach aussen betrifft, so zeigt sich diese in einer effektiven Preisgabe der Souveränität. Ein Staat, der auf die Ausübung seiner Souveränität in einem zentralen Bereich verzichtet, wird von der Gemeinschaft der Staaten nicht ernst genommen und verliert seinen Status als vertrauenswürdiger Partner. Was die Delegitimierung des Staatswesens nach innen betrifft, so kann man diese am besten mit einer Frage illustrieren: Warum soll sich der rechtsunterworfene Bürger der Zwangsgewalt des Staates, in dem er lebt, beugen, wenn dieser Staat täglich tausendfach nach blossem politischem Gutdünken die Gesetze ausser Kraft setzt und damit gleichzeitig das Grundrecht seiner Bürger auf Sicherheit negiert? Das ist eine vollkommene Missachtung der Verantwortung, die der Staat und seine Organe gegenüber den Bürgern, die seiner Rechtsordnung unterworfen sind, haben.
«Warum soll sich der rechtsunterworfene Bürger der Zwangsgewalt des Staates, in dem er lebt, beugen, wenn dieser Staat täglich tausendfach nach blossem politischem Gutdünken die Gesetze ausser Kraft setzt und damit gleichzeitig das Grundrecht seiner Bürger auf Sicherheit negiert? Das ist eine vollkommene Missachtung der Verantwortung, die der Staat und seine Organe gegenüber den Bürgern, die seiner Rechtsordnung unterworfen sind, haben.»

Messen mit zweierlei Mass zerstört Grundlage der Rechtsordnung

Diese Vorgänge führen schliesslich – dies ist der weitere oben angesprochene Aspekt – zur Destabilisierung der staatlichen Ordnung, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Ich möchte dies ganz kurz schildern.
Erstens: Dadurch, dass der Staat mit zweierlei Mass misst, wird der Rechtsordnung nach und nach die Grundlage entzogen. Wenn man in einem Fall Tausende einfach durchwinkt, im anderen Fall aber sehr wohl den einzelnen Bürger, der etwa am Flughafen einreist, penibel kontrolliert, dann bedeutet dies, dass für den Grenzübertritt jeweils ein unterschiedlicher Standard angewendet wird. Ein weiteres Beispiel für diese Doppelzüngigkeit ist, dass der Staat zwar das Schlepperwesen im Einzelfall bestraft, sich selbst aber als Schlepper im grossem Massstab betätigt. Die Einzelheiten, was den Transfer illegaler Migranten zum Beispiel an die deutsche Grenze betrifft, brauche ich hier nicht zu benennen.

Zerfall der Zivilgesellschaft

Zweiter Aspekt der Destabilisierung: Die Anwesenheit einer zunehmenden Zahl von Einwanderern aus völlig andersgearteten Kulturen und mit einem andersgearteten Gesellschafts- und Staatsverständnis führt nicht nur zu sozialen Spannungen und Konflikten, sondern zu einem Zerfall der für eine Demokratie unerlässlichen Zivilgesellschaft – mit all den Problemen für die innere Sicherheit, die sich aus dem Verlust der Kontrolle über die Zuwanderung ergeben. Entscheidend ist hier das, was ich als Verlust des gesellschaftlichen Konsenses bezeichnen würde.

Verlust des Konsenses auf zwischenstaatlicher Ebene

Der dritte Aspekt der Destabilisierung bezieht sich auf die gesamt­europäische, also zwischenstaatliche Ebene. Hier haben wir es ebenfalls mit einem Verlust des Konsenses zu tun, in diesem Fall zwischen den Mitgliedsstaaten. Dieser zeigt sich im völligen Auseinanderdriften zwischen den Positionen der «neuen» und der «alten» Mitgliedsstaaten in der Migrationsfrage – ein Prozess, der bis zum völligen Scheitern des überstaatlichen Konstruktes der Europäischen Union gehen kann. Es ist mehr oder weniger ein Streit aller gegen alle, und es darf nicht verwundern, dass mehr und mehr Staaten zu nationalstaatlichen Problemlösungen zurückkehren beziehungsweise Abkommen ausserhalb des Rahmens der EU gemäss ihrer spezifischen Interessenlage treffen. Ein Beispiel dafür sind die Vereinbarungen, die auf der Wiener Konferenz zwischen Österreich und den West-Balkan- beziehungsweise Visegrad-Staaten geschlossen wurden – sozusagen ohne Erlaubnis aus Brüssel, aber auch aus Berlin. Tatsache ist, dass man nach und nach auf die nationalstaatliche Ebene zurückkehrt, weil man sieht, dass nur dort eine effektive Lösung von konkreten Problemen, die das Staatsinteresse unmittelbar tangieren, möglich ist, auch wenn sich dies – nach Jahrzehnten der Aushöhlung staatlicher Autorität – gewissermassen auf einem niedrigeren Niveau abspielt, weil die Staaten zum Teil gar nicht mehr die Ressourcen haben, zum Beispiel ihre Grenzen zu verteidigen.

Staatsversagen auf Grund unpräziser Rechtsbegriffe – einige begriffliche Klarstellungen

Das bringt mich zu den rechtlichen Implikationen der Destabilisierung. In der gegenwärtigen Debatte werden die Begriffe, so scheint mir, rechtlich völlig unpräzise verwendet, was ein wesentlicher Grund für die faktische Überforderung der staatlichen Strukturen und das zunehmende Staatsversagen ist. Eine begriffliche Klarstellung ist staatspolitisch dringend geboten.

Zur Genfer Flüchtlingskonvention

Erstens: Die als für alle EU-Staaten rechtlich bindend dargestellte Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 bezieht sich überhaupt nicht auf Kriegsflüchtlinge. Dieser Umstand wird der Bevölkerung überhaupt nicht vermittelt. Tatsache ist, dass Krieg als solcher kein Asylgrund nach dieser Konvention ist. Als Flüchtlinge werden gemäss Artikel 2 der Konvention Personen definiert, die sich aus Furcht vor rassischer, religiöser, nationaler, ideologischer Verfolgung oder wegen aus sozialer Gruppenzugehörigkeit resultierender Verfolgung ausserhalb ihres Landes befinden und die unfähig oder nicht bereit sind, den Schutz durch ihr eigenes Land in Anspruch zu nehmen. Dies bedeutet, dass, wenn in einem Land Krieg herrscht, nicht automatisch die gesamte Bevölkerung das Recht auf Asylstatus beziehungsweise auf Beantragung von Asyl hat. Wenn Krieg zwischen Staaten geführt wird, dann heisst dies, dass ein Land als solches angegriffen wird, ohne dass dabei zwischen Religions-, Volkszugehörigkeit beziehungsweise Ideologie der Bürger der in den Krieg involvierten Staaten unterschieden wird. Eine konkrete Situation der Diskriminierung oder Verfolgung im Sinne der Konvention ist dabei nicht gegeben. Die in der Konvention aufgezählten Diskriminierungs- und Verfolgungstatbestände mögen für sehr viele Personen gelten, die von Bürgerkriegen betroffen sind, sie sind jedoch nicht notwendig gegeben, wenn ein Land kriegerisch von aussen angegriffen wird.
Zum Rechtlichen ist zweitens festzuhalten, dass gemäss Artikel 31 der Genfer Flüchtlingskonvention die so definierten Flüchtlinge, die illegal in das Gebiet eines Staates gelangen, diese Einreise nur dann straffrei vornehmen können, wenn sie (1) direkt aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben und ihre Freiheit gemäss dem vorher zitierten Artikel 2 gefährdet war, und (2) sich unverzüglich nach der illegalen Einreise bei den Behörden des jeweiligen Landes melden, das heisst, zu erkennen geben. Das ist Text der Konvention. Dies bedeutet aber, dass faktisch alle, die in den Ländern der Europäischen Union per Boot oder auf dem Landweg ankommen, keine Straffreiheit geniessen, also nicht das Recht in Anspruch nehmen können, Asyl zu beantragen, da sie ja bereits aus Ländern kommen, in denen sie nicht verfolgt wurden. Das bedeutet rechtlich, dass kein EU-Land gemäss der Konvention verpflichtet ist, die Menschen einreisen zu lassen – wobei es natürlich einer zwischenstaatlichen Organisation wie der EU oder einem souveränen Staat völlig freisteht, sich für eine andere, grosszügigere Lösung zu entscheiden. Ein Land kann nach eigenem Gutdünken erklären, dass alle Flüchtlinge aus allen Ländern der Welt jederzeit willkommen seien und dass es keine «Obergrenze» gebe. Es muss allerdings die Folgen einer solchen Politik selbst tragen und darf die Lasten nicht anderen Staaten aufbürden. Tatsache ist aber auch, dass jedes Land das Recht hat, Massnahmen gegen die illegale Einreise von ausländischen Staatsbürgern zu ergreifen. Es besteht daher natürlich auch umgekehrt das Recht eines jeden Staates, diese Personen auszuweisen. Dies geht auch im Umkehrschluss aus der Formulierung von Artikel 32, Absatz 1, der Genfer Flüchtlingskonvention hervor.

Der Kalte Krieg als historischer Hintergrund der Konvention

Zum Verständnis noch ganz kurz ein Hinweis auf den historischen Kontext: Die Konvention galt ursprünglich für Personen, die vor einem bestimmten Stichtag – und das war der 1. Januar 1951 – zu Flüchtlingen wurden. Mit dem Protokoll aus dem Jahr 1966 wurde dann diese zeitliche Beschränkung aufgehoben. Ein Umstand, der in der Regel verschwiegen wird, ist in diesem Zusammenhang auch von Interesse: nämlich dass ein Staat gemäss diesem Protokoll den räumlichen Geltungsbereich anlässlich des Beitrittes zur Konvention gemäss Erklärung einschränken kann. Die Türkei hat davon zum Beispiel Gebrauch gemacht. In der jetzigen Situation ist es geradezu der Gipfel der Ironie, dass für dieses Land, dessen Kooperation in der Flüchtlingsfrage so wichtig ist, auf Grund des gemäss Statut formulierten Vorbehaltes rechtlich die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit Bezug auf Flüchtlinge aus Europa, nicht aber aus dem Mittleren Osten oder aus Asien gilt. Als weiteren Vorbehalt hat die Türkei übrigens auch formuliert, dass keine Person, die als Flüchtling im Land anerkannt wird, Vorteile lukrieren darf, die umfänglicher oder grösser sind als die Sozialhilfe oder Unterstützungszahlungen, die den eigenen Bürgern gewährt werden. Historisch ist auch von Interesse, dass die Konvention, so wie sie zum Stichtag des 1. Januar 1951 gegolten hat, vor allem Flüchtlinge erfasste, die im Zuge der politischen Umwälzungen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg vor Verfolgung aus den kommunistischen Ländern in den Westen geflohen waren. Die Unterstützung politischer Flüchtlinge in der Situation des Kalten Krieges war ein ganz wesentlicher Anlass für den seinerzeitigen Beschluss der Konvention. Es gab übrigens auch schon eine Vorgängerkonvention nach dem Ersten Weltkrieg, die sich (in den zwanziger Jahren) vor allem auf Flüchtlinge aus Russland und Armenien und sodann (in den dreissiger Jahren, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten), auf Flüchtlinge aus Deutschland bezog. Weltweit ausgeweitet wurde der Flüchtlingsschutz jedoch erst ab den sechziger Jahren.
Wie auch immer die konkrete historische Konstellation beschaffen sein mag, im Hinblick auf die Rechtslage nach der geltenden Konvention ist es faktisch so, dass jemand, sobald er ein sicheres Drittland freiwillig verlassen hat, als Migrant und nicht mehr als Flüchtling anzusehen ist. In Europa handelt es sich – in der jetzigen Konstellation – bei den Menschen, die als «Flüchtlinge» gemäss der Genfer Konvention angesehen werden, in der Regel um Wirtschaftsmigranten. («Wirtschaftsflüchtling» ist genau genommen ein irreführender Begriff.) Wirtschaftsmigranten sind Menschen, die auf der Suche nach den bestmöglichen Bedingungen gezielt von einem Land zum anderen weiter wandern.
Auch ein dritter Aspekt, der das Rechtliche betrifft, wird der Bevölkerung zumeist vorenthalten: Die Vertragsstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention können gemäss Artikel 44, Absatz 1, die Konvention jederzeit aufkündigen. Die Kündigung tritt sodann ein Jahr nach dem Datum des Eintreffens des Kündigungsschreibens beim Uno-Generalsekretär in Kraft. Es handelt sich beim Recht auf Asyl also nicht um ein gleichsam ewiges oder unwandelbares völkerrechtliches Prinzip, also eine Norm, die man in der Rechtslehre als jus cogens bezeichnet. An das Vorherige anschliessend, ist zum Rechtlichen auch noch zu sagen, dass die oftmals ins Spiel gebrachte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948, was Flüchtlinge und das Recht auf Asyl betrifft, rechtlich nicht bindend ist. Artikel 14, Absatz 1, der Deklaration statuiert nur ganz allgemein das Recht jedes Menschen auf Asyl: «Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu geniessen.» Eine Konkretisierung dieses Prinzips wird nicht vorgenommen. Wie schon der Titel – «Erklärung» – sagt, handelt es sich hier nicht um einen Vertrag mit bindenden Normen, sondern um ein Dokument, in dem die Staaten kundtun, was ihnen wichtig ist. Es geht hier also letztlich um ein moralisches Prinzip oder eine Richtlinie, sozusagen eine Handlungserwartung der Staatengemeinschaft, die damals die Konvention verabschiedet hat. Von Interesse ist dabei auch, dass in den beiden (1966 beschlossenen und 1976 in Kraft getretenen) Weltpakten, mit denen die Menschenrechtsdeklaration gewissermassen operationalisiert und rechtsverbindlich gemacht wurde – über bürgerliche und politische einerseits und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits –, keine Bestimmungen über Flüchtlings- oder Asylstatus enthalten sind.
«Die Hoffnung auf eine geopolitische Trend­umkehr besteht wohl nur, wenn sich auf globaler Ebene mittelfristig ein neues – in diesem Fall multipolares – Machtgleichgewicht herausbildet, das eine tragfähige Alternative zur derzeitigen hegemonialen Machtkonstellation darstellt.» 

III. Geopolitische Fragestellungen

Dies bringt mich zur abschliessenden, im heutigen Thema mir gestellten geopolitischen Frage: Haben wir es bei der Flüchtlingsbewegung beziehungsweise Völkerwanderung in Europa mit einer Destabilisierung im Namen einer «neuen Weltordnung» zu tun?
Auf Grund der Zuspitzung der Lage in den letzten Monaten kann man dieser Frage nicht ausweichen. Man soll sich auch nicht einschüchtern lassen von all denjenigen, die sofort von «Verschwörungstheorien» und so weiter sprechen. Tatsache ist, dass jedes Gericht, das in einem Strafverfahren ein Urteil fällt, ex definitione eine Verschwörungstheorie entwickeln muss, wenn es sich um mehr als einen Täter handelt. Als mündiger Bürger, der sich selbst ein Urteil bildet, darf man hier nicht klein beigeben.

«Neue Weltordnung und Verschwörungstheorien»

Was den Begriff der «neuen Weltordnung» betrifft, so habe ich bereits Anfang der neunziger Jahre versucht, die dahinterstehende Ideologie zu analysieren. Zum Auftakt des zweiten Golf-Krieges (nach der Besetzung Kuwaits durch den Irak) hat Präsident Bush senior in seiner «State of the Union»-Rede am 16. Januar 1991 den Beginn einer sogenannten «neuen Weltordnung» (New World Order) erklärt. Er hat in dieser Deklaration wörtlich verkündet, dass «die Herrschaft des Rechts, nicht das Gesetz des Dschungels» ab sofort das Verhalten der Staaten bestimmen solle. Dies sei das Wesen der «neuen Weltordnung». Rückblickend kann man heute sagen, dass die USA nach dem Zerfall des kommunistischen Imperiums die Gunst der Stunde zu nutzen suchten, um ihre hegemoniale Position ein für alle mal zu sichern – ein Anliegen, das in der nationalen Sicherheitsdoktrin von Bush junior ein Jahrzehnt später als der Wille der USA proklamiert wurde, niemals eine Situation strategischer Parität mit einem anderen Staat zu akzeptieren. Darin zeigt sich, so könnte man in einem weltgeschichtlichen Rückblick sagen, die Unersättlichkeit und der Selbstbetrug der Macht. Die weltpolitischen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte müssen in diesem Rahmen gesehen werden. Wesentlicher Teil dieser Strategie war der Anspruch der Vereinigten Staaten, den gesamten Mittleren Osten gemäss den eigenen Interessen sozusagen «nomine novi ordinis saeculorum» umzumodeln. Dies wurde sodann durch das ideologische Konzept eines sogenannten «New Middle East» mit den Schlagworten von Demokratie und Menschenrechten beworben. Die von mir hier kurz skizzierten Fakten der Flüchtlingskrise – historisch, politisch, rechtlich – müssen in diesem historisch-geostrategischen Gesamtzusammenhang interpretiert werden; Koinzidenzen und zeitliche Abfolgen müssen sorgfältig beachtet werden. Was dies bedeutet, möchte ich kurz anhand von fünf Beispielen zeigen.
Erstens verweise ich auf die Beseitigung der politischen Ordnung mit Waffengewalt – unter Verletzung der Charta der Vereinten Nationen – in Afghanistan (2001), im Irak (2003), in Libyen (2011) und in Syrien (ein Prozess, der seit 2011 im Gange ist und auch mit der mehr oder weniger direkten Unterstützung bewaffneter islamischer Gruppen auf dem Gebiet dieses Staates zusammenhängt). Die unmittelbare Folge derartiger Interventionen sind, wie die Weltöffentlichkeit inzwischen zur Kenntnis nehmen ­musste, Bürgerkriege und Flüchtlingsströme. In all den Fällen, die ich erwähnt habe, haben wir es mit einem gezielt und direkt herbeigeführten Staatsversagen zu tun. Das ideologische Instrument, dessen man sich bediente, um diese destabilisierenden Interventionen zu rechtfertigen, ist dasjenige der sogenannten humanitären Intervention oder – wie es in der letzten Version, weil es irgendwie weniger verfänglich klingt, heisst – der sogenannten Schutzverantwortung («responsibility to protect»).

Geheimdienstliche Nutzung «neuer sozialer Medien»

Zweitens ist hier beispielhaft zu verweisen auf die geheimdienstliche Steuerung beziehungsweise Nutzung der sogenannten neuen sozialen Medien (New Social Media) im Zuge des Arabischen Frühlings im Jahr 2011. Die Folge war hier ebenfalls – siehe auch die Ereignisse in Ägypten – bürgerkriegsartiges Chaos. Die Auslösung des Aufstandes und des Bürgerkrieges in Syrien ist auch wesentlich mit Hilfe dieser Informationstechniken bewerkstelligt worden. Natürlich muss man der Ordnung halber auch sagen, dass dies ein Faktor unter mehreren war.

Der «Islamische Staat»

Das dritte Beispiel ist die Entstehung des «Islamischen Staates», in der offiziellen Bezeichnung daula al islamia fi al iraku wa al scham, also islamischer Staat im Irak und im Gebiet von al-scham. (Das ist das historische Gebiet, das auch Palästina und Liba­non einschliesst.) Dieser «Staat» reklamiert nicht nur diese Territorien, sondern auch Gebiete in anderen Staaten wie etwa in Ägypten, Liby­en, Mali, Nigeria, den Philippinen (die Region Mindanao), Afghanistan, den Staaten Zentralasiens wie zum Beispiel Usbekistan und so weiter. Nicht unterschätzt werden darf auch die ideologische Ausstrahlung des Islamischen Staates auf Euro­pa – nicht nur im Hinblick auf die Gefahr der Infiltration über die unkontrollierten Flüchtlingsströme, sondern auch durch die Fanatisierung und Rekrutierung in Euro­pa lebender Moslems für die Anliegen des Islamischen Staates.
Ich warne davor, das emotionale Potential der Rückbesinnung auf die islamische Tradition insbesondere auch bei der Jugend zu unterschätzen. Es ist sträflich naiv, zu glauben, man könne mit einer Liste von Prinzipien, die man jeden Aufenthaltswerber unterschreiben lässt, die Menschen dazu bringen, sich zu einem säkularen, das heisst religiös neutralen Staatsverständnis zu bekennen und das, was ihnen aus religiöser Überzeugung wichtig ist, sozusagen mit einem Federstrich ad acta zu legen. Indem man sich schulmeisterlich vor die Menschen hinstellt und sie als «Kursteilnehmer» für wenige Stunden, allenfalls Tage, belehrt, wird man nur sich selbst beruhigen, aber nachhaltig gar nichts bewirken.
Beim vierten Aspekt, den ich noch erwähnen möchte, geht es um die Auswirkungen dessen, was ich in den ersten drei Aspekten beschrieben habe, nämlich die Auslösung einer Masseneinwanderung nach Europa. Es scheint mir zu euphemistisch, hier – wie es die frühere österreichische Innenministerin getan hat – von einem «Sturm auf die Festung Europa» zu sprechen. Es handelt sich, präzise gesprochen, vielmehr um einen Sturm auf das Territorium eines – aus Prinzip oder Nachlässigkeit – seine Aussengrenzen nicht mehr schützenden Staatenverbundes. Es ist nicht eine «Festung», die hier gestürmt würde, sondern etwas, das offenbar gar nicht mehr den Willen hat, sich zu schützen, und das mehr oder weniger schon Zeichen des Verfalles zeigt.

Zusammentreffen «fast wie auf Knopfdruck»

Zwei Koinzidenzen stechen in diesem Zusammenhang ins Auge: einerseits das zeitliche Zusammentreffen – fast wie auf Knopfdruck – zwischen der radikalen Kürzung der Mittel für die Flüchtlingslager in den Nachbarländern Syriens (ungefähr im Sommer 2015) und des plötzlichen Anschwellens des Flüchtlingsstromes. (Ich meine hier die Lager, die im Namen der Flüchtlingshilfsorganisation der Vereinten Nationen in den angrenzenden Ländern, insbesondere Jordanien, verwaltet werden. Dazu gibt es auch jede Menge Detailinformationen durch die jordanischen Behörden.) Andererseits ist hier auf die Koinzidenz zu verweisen, die darin besteht, dass die de facto Einladung der deutschen Regierungschefin eine auch für Österreich, Ungarn, sodann auch Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien untragbare Situation heraufbeschworen hat. Das Ganze geschah zudem in unmittelbarer zeitlicher Abfolge nach der drastischen Kürzung der Mittel in den von der Uno betriebenen Flüchtlingslagern.

Innerstaatliche Konflikte

Was die mittel- und langfristigen Folgen betrifft, ist noch ein fünfter Aspekt von Bedeutung. Einerseits geht es hier um ein wohl nicht mehr praktikables multikulturelles Gesellschaftsmodell, dessen Scheitern übri­gens die deutsche Kanzlerin schon Jahre vor der Masseneinwanderung (im Oktober 2010) in einer Rede vor der Jungen Union konstatiert hat – eine Entwicklung, die sie jetzt erst recht mit ihrer Politik heraufbeschwört, indem sie mit ihren wiederholten Erklärungen den Flüchtlingsstrom nach Europa massiv verstärkt. Eine Folge dieser unkontrollierten Einwanderung ist auch, dass kulturell-religiöse Konflikte nach ­Europa importiert werden. So besteht nunmehr die Gefahr, dass der globale «Konflikt der Zivilisationen» (Huntingtons «clash of civilizations») zu einer innerstaatlichen Realität wird. Eine weitere Folge dieser Entwicklung ist die Spaltung der autochthonen Gesellschaften Europas in ideologisch unversöhnliche Lager. Wir sind mit einer ungeheuren politisch-gesellschaftlichen Polarisierung konfrontiert, die in dieser Intensität in den letzten Jahrzehnten nicht zu beobachten war. Dies ist inzwischen ein innenpolitisches Faktum in vielen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Als Folge der von mir bereits beschriebenen Handhabung – oder Nichthandhabung – der Flüchtlingsproblematik durch die europäischen Instanzen ist nunmehr eine zunehmende Delegitimierung, ja, der schrittweise Zerfall der Europäischen Union zu konstatieren, wie immer der einzelne dazu stehen mag. Die Entscheidung der Bevölkerung in Grossbritannien, die sehr wohl auch mit der von der deutschen Kanzlerin zu verantwortenden Flüchtlingspolitik zu tun hat, ist ein ganz klares Zeichen.

Abschliessende Überlegungen

Drohende politische und wirtschaftliche Marginalisierung Europas

Dies bringt mich zu meinen abschliessenden Überlegungen. Geopolitisch bedeutet alles dies, dass erstens Europa als weltpolitischer Akteur zunehmend marginalisiert wird und zweitens die einzelstaatlichen Akteure auf lange Zeit mit sich selbst beschäftigt sein werden. Sogar die Gefahr innerer Unruhen und von bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen kann nicht mehr von der Hand gewiesen werden. Gleichzeitig ist auch auf die drohende Verringerung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit auf Grund der demographischen Veränderungen und der damit verbundenen zunehmenden Unfinanzierbarkeit des Sozialstaates zu verweisen. Die mantrahafte Beteuerung hehrer Prinzipien nützt hier überhaupt nichts, so wie es auch zu nichts führt, den Menschen hundertfach zu sagen, dass es bei Flüchtlingen «keine Obergrenze» gebe – was übrigens vollkommen irreführend ist.
«Die europäischen Staaten […] destabilisieren sich nunmehr selbst, wenn sie – rechtlich im übrigen nicht fundierte – humanitäre Überlegungen über die Staatsraison stellen und eine Situation heraufbeschwören, in der das Bonum commune Europaeum – das Wohl aller Bürger – und der kontinentale Friede auf dem Spiel stehen. Sie werden so, das ist zu befürchten, im Namen einer falsch verstandenen Humanität den eigenen Untergang herbeiführen, wenn nicht von engagierten und verantwortungsbewussten Bürgern, Parteien, Bewegungen nachhaltig gegengesteuert wird.»

Die Vermengung normativer und faktischer Aspekte zerstören die Glaubwürdigkeit des Prinzips selbst

Man muss nämlich zwischen einer Obergrenze im rechtlich-normativen und einer Obergrenze im faktischen Sinn unterscheiden. Natürlich gilt gemäss der Konvention von 1951 das Recht auf Asyl unter den Bedingungen, die in der Konvention formuliert sind, für jeden, der diese Bedingungen erfüllt; hier kann man nicht abgrenzen oder ausgrenzen. Es ist aber auch faktisch klar, dass zum Beispiel die Republik Österreich nicht – sagen wir – zwei, drei Milliarden Menschen der Weltbevölkerung bei sich aufnehmen kann. Oder, an einem anderen Beispiel formuliert: Jemand, der Flüchtlingen freiwillig helfen möchte, weil er das als seine moralische Verpflichtung ansieht, der muss auch sagen, dass diese seine Hilfsbereitschaft – so wie das Gebot der Nächstenliebe – grundsätzlich allen gegenüber gilt. Derselbe muss aber auch so ehrlich sein, zu konzedieren, dass er in seiner eigenen Wohnung, auch wenn er möchte, nicht Tausende, die dann vielleicht seine Hilfe in Anspruch nehmen wollen, aufnehmen kann. Wenn man den normativen und den faktischen Aspekt vermengt, dann zerstört man letztlich die Glaubwürdigkeit des Prinzips selbst.

«Unintended consequences» oder beabsichtigte Folgen?

Die Identifizierung der Nutzniesser dieser Kette von Ereignissen, wie ich sie hier angedeutet habe, kann uns möglicherweise Hinweise darauf geben, in welchem Ausmass es sich um die berühmten, wie die Amerikaner sagen, «unintended consequences», also unbeabsichtigten Folgen, beziehungsweise um absichtlich herbeigeführte Entwicklungen handelt. Da die Profiteure einer solchen Entwicklung naturgemäss das Licht der Öffentlichkeit scheuen, können sie auch leicht, wie schon vorher angedeutet, mit dem Totschlag-Argument der Verschwörungstheorie operieren. Der kritisch distanzierte Beobachter der Ereignisse wird sich jedoch, so hoffe ich, dadurch nicht einschüchtern lassen.

Multipolares Machtgleichgewicht als tragfähige Alternative

Die Hoffnung auf eine geopolitische Trend­umkehr besteht wohl nur, wenn sich auf globaler Ebene mittelfristig ein neues – in diesem Fall multipolares – Machtgleichgewicht herausbildet, das eine tragfähige Alternative zur derzeitigen hegemonialen Machtkonstellation darstellt. Allerdings wird, so befürchte ich, nach derzeitigem Stand die Europäische Union an der Herausbildung dieser Multi­polarität kaum einen Anteil haben.
Man darf sich keinen Illusionen hingeben. Die Lage im Mittleren Osten wird sich noch jahrzehntelang nicht stabilisieren. Wir haben es, was etwa die Konfrontation von Schiiten und Sunniten betrifft, mit einer Situation wie im Dreissigjährigen Krieg zu tun. Die westlichen Interventionen haben eine Konstellation heraufbeschworen, die, was diesen Glaubenskrieg betrifft, durchaus mit der europäischen Tragödie im siebzehnten Jahrhundert vergleichbar ist.
Was die durch die Interventionen ausgelöste Völkerwanderung angeht, ist, so befürchte ich, der «point of no return» schon erreicht. Die Massnahmen in der Region zur Abwehr der Flüchtlingsströme sind kaum mehr erfolgversprechend. Auch wenn es immer wieder heisst, man müsse das Problem bei den Wurzeln bekämpfen, das heisst, man müsse die Staaten – nachdem man deren politische Ordnung nachhaltig zerstört hat – wieder stabil und lebensfähig machen, so sehe ich nicht, wie man dies noch glaubwürdig – mit all den Machtmitteln und der Wirtschaftskraft, die der Westen besitzt – in den nächsten Jahrzehnten bewerkstelligen könnte. Weil es, so bedauerlich dies sein mag, für die Ursachenbekämpfung wohl schon zu spät ist, geht es zunächst um effektive Massnahmen ad hoc, das heisst um wirksame physische Massnahmen zum Schutz der Grenzen von Europa.

Schutz der Grenzen zum Schutz des kontinentalen Friedens

Die Europäer, und ich meine hier vor allem die europäischen Politiker, wären gut beraten, wenn sie die Konflikte, über die ich hier gesprochen habe, nicht importieren und wenn sie statt einer Politik der Gefühle, die zeitweise in eine humanitäre Massenhysterie auszuarten drohte, eine Politik der Vernunft betrieben, die auf einer rationalen Analyse der geopolitischen Folgen der Entwicklungen basiert. Die arabische Welt wurde – scheinheilig im Namen von Demokratie und Menschenrechten – ins Chaos gestürzt. Die europäischen Staaten, die – ganz anders als der Hauptverantwortliche auf der anderen Seite des Atlantik – von den Folgen dieser Entwicklung unmittelbar betroffen sind, destabilisieren sich nunmehr selbst, wenn sie – rechtlich im übrigen nicht fundierte – humanitäre Überlegungen über die Staatsraison stellen und eine Situation heraufbeschwören, in der das Bonum commune Europaeum – das Wohl aller Bürger – und der kontinentale Friede auf dem Spiel stehen. Sie werden so, das ist zu befürchten, im Namen einer falsch verstandenen Humanität den eigenen Untergang herbeiführen, wenn nicht von engagierten und verantwortungsbewussten Bürgern, Parteien, Bewegungen nachhaltig gegengesteuert wird.    •
*    Hans Köchler war von 1990 bis 2008 Vorstand des Institutes für Philosophie an der Universität Innsbruck. Heute ist er Vorsitzender der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaft und Politik, Kopräsident der Internationalen Akademie für Philosophie und Präsident der International Progress Organization, die er 1972 mit gründete. Aus dem äusserst reichhaltigen Wirken von Hans Köchler können an dieser Stelle nur ein paar wenige Punkte hervorgehoben werden. Köchlers Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Rechtsphilosophie, die politische Philosophie und die philosophische Anthropologie, in der seine Forschungsergebnisse in vielen Punkten mit den Ansichten des polnischen Kardinals Karol Wojtyla, des späteren Papstes ­Johannes Paul II., korrespondieren. Hans Köchler hat sich seit den frühen siebziger Jahren mit zahlreichen Publikationen, Reisen, Vorträgen und durch sein Mitwirken in verschiedenen internationalen Organisationen für einen Dialog der Kulturen eingesetzt, insbesondere für einen Dialog zwischen westlicher und islamischer Welt. 1987 hat Professor Köchler gemeinsam mit dem Nobelpreisträger Seán MacBride den «Appell von Juristen gegen den Atomkrieg» auf den Weg gebracht und in dessen Folge mit einem Gutachten dazu beigetragen, dass der Internationale Gerichtshof die Völkerrechtswidrigkeit eines möglichen Atomwaffeneinsatzes festgestellt hat. Hans Köchler hat immer wieder zur Frage der Reform der Vereinten Nationen Stellung genommen und deren Demokratisierung gefordert. Insbesondere nahm er auch zur Frage Stellung, wie internationales Recht durchzusetzen sei, und wandte sich dabei gegen eine machtpolitische Instrumentalisierung der Normen des Völkerrechts. Als vom damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, entsandter Beobachter beim Lockerbie-Prozess verfasste er einen kritischen Bericht, der 2003 als Buch, «Global Justice or Global Revenge? International Justice at the Crossroads» veröffentlicht wurde. Sein Eindruck war, dass der Lockerbie-Prozess unter politischen Vorgaben gestanden hatte, und er forderte deshalb eine strenge Gewaltenteilung und eine vollkommene Unabhängigkeit der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Der hier abgedruckte Text gibt einen Vortrag wieder, den Hans Köchler auf Einladung von Zeit-Fragen am 25. Juli 2016 in Sirnach (CH) gehalten hat.
(aus Zeit-Fragen Nr. 20/21 vom 13. September 2016)

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